Robota statt Roboter – Pionierinnen an der Konsole

Pressemitteilung

Vor 125 Jahren, im Jahr 1900, durften Frauen in Österreich erstmals Medizin studieren – ein Meilenstein in Richtung Gleichberechtigung. Heute ist bereits die HĂ€lfte aller Ärzt*innen im Land weiblich. In den chirurgischen Fachdisziplinen ist das VerhĂ€ltnis noch unausgewogen. Doch auch hier zeichnet sich ein Wandel ab – wie die junge Generation von Chirurginnen am Uniklinikum Graz zeigt, die mit Robotersystemen Pionierarbeit leistet.

Am Boden des OP 4 der Grazer Kinderchirurgie werden diverse Markierungen in unterschiedlichen Farben immer mehr. Es sind Linien fĂŒr den Aufbau des Senhance-Roboters fĂŒr verschiedene Operationen. Hinterlassen haben die Spuren auf dem Boden die Chirurginnen Vanessa Wolfschluckner und Agnes Bokros gemeinsam mit ihrem Chef, Holger Till, Vorstand der Univ.-Klinik fĂŒr Kinder- und Jugendchirurgie. „Wir freuen uns, dass es immer mehr Farben gibt“, sagen die beiden. Jede neue Farbe ist ein Zeichen dafĂŒr, dass sie ihr Repertoire auf dem Roboter um eine weitere Operation erweitert haben. Ein Zeichen fĂŒr gesammelte Erfahrungen mit dem Senhance-System: dem derzeit einzigen robotischen System fĂŒr Kinderchirurgie in ganz Österreich. „Viele Operationen mit Senhance sind mittlerweile schon Routine, zum Beispiel bei Gallenblase oder Leistenhernien. Jetzt kommen nach und nach komplexere Eingriffe dazu, beispielsweise die Nierenbeckenplastik“, erzĂ€hlt Wolfschluckner.

Weil es keine Kolleg*innen in Österreich gab und gibt, auf deren Erfahrung man zurĂŒckgreifen könnte, mĂŒssen die beiden den Aufbau des Roboters fĂŒr jede neue Operation bzw. Indikation von Grund auf erarbeiten. Der exakte Aufbau ist extrem wichtig, ja die Basis, dass man mit einer OP ĂŒberhaupt beginnen kann. Die erste Operation an der Kinderchirurgie Graz mit Senhance ging im Herbst 2024 ĂŒber die BĂŒhne des OP 4. Bokros und Wolfschluckner waren zuvor von ihrem Chef vorgeschlagen worden, „den Weg mit dem Roboter zu gehen“, Trainings in Amsterdam und vor Ort folgten. „Professor Till war es, der es geschafft hat, das System ĂŒberhaupt nach Graz zu holen. Dann hat er uns an Bord geholt, damit wir das gemeinsam weiterentwickeln.“

Wer ĂŒbernimmt das Steuer?

Bei einer Operation mit Senhance sind immer drei Chirurg*innen vor Ort, zwei am Tisch und eine*r an der Konsole. „Wer an der Konsole sitzt, operiert, und natĂŒrlich ist es das Ziel, dass man möglichst viel Konsolenzeit bekommt“, erzĂ€hlen die Chirurginnen. Und: „Der spannendste Teil ist der an der Konsole, aber das eigentlich Schwierigste ist das davor.“ 

Es assistieren also nicht vorwiegend Frauen, wĂ€hrend die MĂ€nner an der Steuerkonsole sitzen? „Nein. Bei uns definitiv nicht“, sagt Bokros. „Frauen sind in der Chirurgie, insbesondere der Kinderchirurgie, schon ganz schön vorne, und das ist gut so“, bestĂ€tigt Wolfschluckner.

„Ob Mann oder Frau, ist in der Chirurgie aber eigentlich kein Thema mehr“, finden beide. Einen Nachteil erlebten sie persönlich nie. „Wenn es um die Ausdauer geht, stehen Frauen MĂ€nnern sicher um nichts nach. Auch Frauen sind zĂ€h und können lange und in unbequemen Positionen stehen. Das hat nichts mit Kraft zu tun“, sagt Wolfschluckner. Der Roboter sei da fĂŒr alle von Vorteil, weil man dank ihm auch bei sehr langen Operationen relativ bequem sitzen könne. FĂŒr Frauen biete der Roboter insofern gerechte Chancen, als bisherige laparoskopische Instrumente oft auf MĂ€nnerhĂ€nde zugeschnitten waren.

Chirurgie – (k)eine Frage der Kraft

„Es gibt gewisse Situationen, wo Kraft benötigt wird, in der Traumatologie etwa. Wir haben ja Kinder von 0 bis 18 Jahren bei uns, da ist auch der 100-Kilo-Bursche mit dem verschobenen Bruch dabei. Da braucht man wirklich Kraft, zum Ziehen, zum Bewegen, damit der Knochen wieder richtig steht. Da sind manche vielleicht ein bisschen schwĂ€cher als andere, auf mich trifft das sicher zu“, gibt Bokros lachend zu. „Man muss anerkennen, dass MĂ€nner physisch prinzipiell mehr Kraft haben – aber auch nicht alle. Und es gibt auch genug Frauen, die das leisten können“, sagt Wolfschluckner.

Shootingstar an der Konsole

Der neuen Generation Chirurginnen begegnet man auch in der Klinischen Abteilung fĂŒr Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie an der UniversitĂ€tsklinik fĂŒr Chirurgie. „Ich bin immer die erste, die aufzeigt, wenn es darum geht, etwas auszuprobieren, etwas weiterzubringen“, sagt Beatrice Lukenaite. Die 30-JĂ€hrige, die 2022 fĂŒr ihre Doktorarbeit ohne Deutschkenntnisse aus Litauen nach Graz gekommen ist, ist zu einem „Shootingstar“ der Roboterchirurgie avanciert. „Ich habe ein Jahr lang bei fast allen OPs assistiert, von kleineren Operationen wie Leistenbruch bis hin zu Rektumresektionen“, erzĂ€hlt sie. Im April 2023, mit dem Zertifikat fĂŒr Konsolenchirurgie in der Tasche, saß sie zum ersten Mal selbst am Steuerpult. Mittlerweile hat sie mehr als hundert Operationen hinter sich, alle verzeichnet in einer App, die ihre zunehmende Routine auch beziffert. Bei Patient*innen oder vor Publikum auf Kongressen löst Lukenaite wegen ihres jungen Alters immer wieder Erstaunen aus: „Es gibt schon noch Patient*innen, die sagen: Und wann kommt der Chirurg?“

QualitÀt geht vor QuantitÀt

Auf die Frage, was man fĂŒr Exzellenz in der Roboterchirurgie benötigt, antwortet Lukenaite: „Ich finde, mit dem Roboter braucht man Geduld. Und man muss auch ganz prĂ€zise sein. Denn der Roboter ist wirklich stark. Keine schnellen oder großen Bewegungen machen, ohne Stress oder große Eile operieren, QualitĂ€t vor QuantitĂ€t, das ist wichtig.“ Ihre Begeisterung fĂŒr den Roboter ist jedenfalls ungebrochen. „Man kann in Körperregionen operieren, die auch laparoskopisch schwer zu erreichen sind, im kleinen Becken zum Beispiel. Auch kann man immer noch was Kleineres sehen und noch tiefer operieren, was fĂŒr Patientinnen und Patienten dann noch bessere Ergebnisse bringt.“ Auch das Repertoire erweitert sich stĂ€ndig, nahezu alles ließe sich robotisch operieren.

DafĂŒr, dass der Roboter nicht fĂŒr eine zusĂ€tzliche, ungewollte Distanz zum Patienten bzw. zur Patientin fĂŒhrt, sorgt Lukenaite ganz bewusst: „Jeder Patient, jede Patientin ist etwas Besonderes. Ich gehe vor und nach jeder OP immer persönlich zu ihnen. Ich finde, wir entwickeln so viel robotische Chirurgie, da darf die Menschlichkeit nicht auf der Strecke bleiben. Mir ist wichtig, dass die Person gesehen wird und dass das auch so bleibt. Wir operieren ja Menschen und nicht einfach nur ein Übungsmodell.“

Am Uniklinikum Graz sind derzeit (Stand 13. Oktober 2025) von insgesamt 1.463 Ärzt*innen 752 weiblich und 711 mĂ€nnlich, unter den Chirurg*innen sind 79 weiblich und 112 mĂ€nnlich. 
125 Jahre nach den ersten Frauen im Medizinstudium geben Ärztinnen wie Wolfschluckner, Bokros und Lukenaite der Chirurgie, die lange Zeit eine MĂ€nnerdomĂ€ne war, ein neues weibliches Gesicht – mit fachlicher Exzellenz, Innovationsgeist und viel Menschlichkeit.“

125 Jahre Medizinstudium fĂŒr Frauen in Österreich

Veranstaltungstipp: 
Am 5. November 2025 findet im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Medizin und Gesellschaft" eine Lesung aus dem Buch „Ärztinnen, die Geschichte schrieben  â€“ 
125 Jahre Medizinstudium fĂŒr Frauen in Österreich“ statt.
Wo? Lesesaal der UniversitĂ€tsbibliothek der Med Uni Graz, Stiftingtalstraße 24, 8010 Graz
Wann? 19 Uhr. Anmeldung bis 04. November 2025

Buchtipp: 
Das Buch „Ärztinnen, die Geschichte schrieben – 125 Jahre Medizinstudium fĂŒr Frauen in Österreich“ von Birgit Kofler-Bettschart beschĂ€ftigt sich mit der Geschichte des Medizinstudiums fĂŒr Frauen in Österreich – mit den Pionierinnen, ihren Lebenswegen, den HĂŒrden, die sie ĂŒberwinden mussten, und dem Beitrag, den Ärztinnen zur Medizin leisten.

Presseanfragen

Pressestelle des LKH-Univ. Klinikum Graz
Mag. Simone Pfandl-Pichler
Auenbruggerplatz 1, 8036 Graz

Telefon: +43 316 385-87791
Fax: +43 316 385-16942

simone.pichler@uniklinikum.kages.at

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