Sie sitzt, passt und wächst mit: die „Knochenschraube“
Die Kinder- und Jugendtraumatolog*innen der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie des Uniklinikum Graz gehen in der Behandlung von Knochenbrüchen neue Wege: Als erstes Team weltweit setzt man auf Schrauben aus Knochenmaterial, um bestimmte Frakturen von Patient*innen zu heilen und schafft damit eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Denn da das Material vom Körper zu eigenem Gewebe umgebaut wird und somit im Körper verbleiben kann, ersparen sich die Betroffenen jenen Folgeeingriff, der beim Einsatz von Metallschrauben nach einer gewissen Zeit ansteht – nämlich, die chirurgische Entfernung der Teile. Die Klinik wiederum kann die Ressourcen, die aufgrund dessen frei werden, anderwärtig nutzen. Gut 100 Mal pro Jahr könnte das der Fall sein.
Mehr als 3.200 Metallimplantate werden durchschnittlich pro Jahr an der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie den Patient*innen eingesetzt, um die unterschiedlichsten Knochenbrüche zu behandeln. Besonders mühsam für die Betroffenen: Selbst, wenn alles verheilt ist, beschert ihnen ein solches Implantat eine weitere OP, denn wenn Schrauben und Co. ihren Zweck erfüllt haben, müssen sie wieder entfernt werden. Der Körper wächst, Metall bekanntlich nicht.
Die gute Nachricht: Am Uniklinikum Graz ersparen sich nun viele der jungen Patient*innen diese Eingriffe. Seit Anfang des Jahres setzt man dort nämlich auch bei den bis 18-Jährigen auf Implantate, die aus Spenderknochen gefertigt sind – und ist damit die einzige Kinder- und Jugendchirurgie weltweit, die das in der Traumaversorgung tut. „Die Knochenschrauben haben einen riesigen Vorteil: Sie müssen nicht mehr entfernt werden, denn durch einen biointelligenten Prozess, der bereits in den ersten 24 Stunden nach der Implantation einsetzt, wird das Implantat in körpereigenes Knochengewebe umgebaut“, erklärt Kinder- und Jugendchirurg Thomas Petnehazy. Will heißen, die Schraube wird von Zellen besiedelt, eigenes Knochengewebe wird auf- und sie selbst dabei abgebaut. Gefäße siedeln sich an, das Material revitalisiert sich, wird lebendig und schließlich als körpereigen anerkannt. „Deshalb wird es auch nicht abgestoßen, es kommt zu keinen lokalen Reizzuständen oder einer Lockerung, die wir aber bei Metallschrauben oder jenen Transplantaten, die auf Milchsäure-, Zucker- oder Magnesiumbasis hergestellt sind, durchaus sehen“, ergänzt sein Kollege und Traumateamleiter Ferdinand Füsi.
19 Mal bei 11 Patient*innen wurden die neuen Knochenschrauben bisher vom Grazer Kinder- und Jugendtraumatologieteam erfolgreich implantiert. So z. B. bei Anna, deren OP heute genau fünf Monate zurückliegt. Die Schülerin war im Jänner beim Sprung mit ihrem Zipfelbob gestürzt und hatte sich einen sprunggelenksnahen Bruch des Schienbeines zugezogen. Und nachdem trotz zehntägiger Ruhepause mittels Spaltgips die Verletzung nicht so verheilte, wie sie sollte, war besagte OP notwendig. „Beim Aufklärungsgespräch hat uns Dr. Füsi dann auch erklärt, dass bei Anna Knochenschrauben verwendet werden“, erzählt Annas Mama Romana bei der Kontrolle. „Wir waren sofort einverstanden. Vor allem, weil sich Anna damit einen weiteren Eingriff ersparen kann.“ Die minimalinvasive OP dauerte ca. 45 Minuten, insgesamt war die Schülerin drei Tage lang im Spital und musste danach für vier Wochen einen Gips tragen. „Heute geht’s mir super! Es ist alles gut verheilt und ich kann wieder alles machen“, strahlt die begeisterte Sportlerin. Verständlich, denn für sie ist die Sache damit ein für alle Mal erledigt und sie kann sich auf die Ferien freuen, ohne sich darauf einstellen zu müssen, dass mit dem Schulbeginn im Herbst die nächste OP ansteht.
100 OPs weniger pro Jahr sind möglich
Annas Verletzung zählt zu den klassischen Einsatzbereichen für das neue Material. „Generell hat es sich bei Gelenksverletzungen und Trümmerbrüchen bewährt. Aufgrund der guten Erfahrungen wird die Indikationsliste für den Einsatz ständig erweitert“, erklärt Holger Till, Vorstand der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie. Aktuell sei die Verwendung der Implantate bei gut 100 OPs pro Jahr realistisch. „Was bedeutet, dass 100 Folge-OPs entfallen können und uns diese Ressourcen für andere Patient*innen zur Verfügung stehen“, so Till. Um diesen Weg gehen zu können, würden die Mitarbeiter*innen auch intensiv geschult. „Ich freue mich sehr, dass unser Traumateam mit so viel Engagement dabei ist, denn es zeigt, dass wir jeden Tag danach streben, den Patient*innen noch bessere und effizientere Behandlungen anbieten zu können.“
Österreichische Innovation
Die neue an der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendchirurgie eingesetzte „Knochenschraube“ ist eine österreichische Innovation, die von einer Linzer Firma und dem Institut für Biomechanik sowie dem Institut für Elektronenmikroskopie und Feinstrukturforschung der TU Graz entwickelt wurde. Die Implantate werden nach einem aufwendigen Spenderscreening mithilfe einer speziellen, eigens dafür entwickelten Technik aus menschlichen Oberschenkelknochen hergestellt. Ein effektiver und schonender Sterilisationsprozess gewährleistet dabei höchste Sicherheit und den Erhalt der natürlichen Knochenstrukturen und Mikroarchitektur. Da das biogene Material ursprünglich primär für die Versorgung von altersbedingter Arthrose entwickelt wurde, ist es seit Längerem im Erwachsenenbereich im Einsatz. An der Univ.-Klinik für Traumatologie und Orthopädie des Uniklinikum Graz beispielsweise u. a. bei Kahnbeinfrakturen, die nicht heilen, im Rahmen der Fußchirurgie oder generell in Bereichen, wo zu wenig körpereigenes Knochenmaterial vorhanden ist. Hier erspart die Verwendung des Materials den Patient*innen auch die schmerzhafte Knochenentnahme (z. B.) am Beckenkamm.
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